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Leserunde auf Lovleybooks zur neuen #Herzgeschichte

#Herzgeschichte - Lindenhof - Der beschwerliche Weg zurück

1.Kapitel

 

Die Sonne kroch langsam hinter der kleinen Anhöhe empor und verwandelte den Himmel in ein rot-violettes Meer. Noch lange war der Feuerball nicht vollständig zu sehen und doch verdrängte er die Nacht. Maximilian Storch, die Kappe tief in die Stirn gezogen, seines Zeichens auszubildender Pferdewirt im dritten Lehrjahr mit Schwerpunkt Zucht und Service, bog um die Ecke der langgezogenen Scheune. Er war spät dran. Höchste Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Zielstrebig steuerte er auf die Pferdeboxen zu. Die beiden Stallburschen Janosch und Igor arbeiteten bereits auf Hochtouren, um die Boxen zu reinigen und frisches Stroh auszubringen. Im dumpfen Lichtstrahl, der aus der Deckenlampe fiel, entdeckte er Toni an der Box von Amigo. „Guten Morgen, Toni. Schon so früh hier draußen?“ „Dir auch einen guten Morgen, Max. Du kennst mich ja. Mit dem Schlafen habe ich es nicht so. Kannst du mir bitte Amigo satteln? Wir beide benötigen dringend Auslauf, du verstehst, was ich meine“…

 

Arthur Morbach, Gutsherr seit mehr als vierzig Jahren, liebte diese frühe Morgenstunde. Die frische Luft sog er tief in seine Lungen. Sie befüllte seinen Körper mit Sauerstoff, belebte ihn. Die Müdigkeit machte neuem Tatendrang und kraftvoller Energie Platz. Stolz ließ er den Blick über sein Anwesen schweifen. Er war auf dem Weg zu den Stallungen. Zu seiner Rechten lagen die riesigen Weideflächen, die Koppeln und die Turnierplätze. Hinter ihm ragte das mattgelbe, zweistöckige Herrenhaus mit seinen Gesimsen, den Anbauten und dem Satteldach mit den zahlreichen Gauben in die Landschaft. Laut einer alten Urkunde wurde der Bau siebzehnhundertfünfundfünfzig errichtet und im neunzehnten Jahrhundert im Spätbarockstil umgestaltet. Im zweiten Weltkrieg zerstörte es ein Bombenhagel beinahe zur Gänze. Beim Wiederaufbau erweiterte man es durch die Anbauten und Gesimse. Seit jeher verweilte das Gebäude im Besitz seiner Familie. Zur Linken erstreckten sich die Wirtschaftsgebäude, mit den länglichen Backsteinbauten, in denen zwei unterschiedlich große Reithallen und die Boxen für die hundert Pferde, die sich zurzeit am Hof befanden, untergebracht waren. Inmitten eines riesigen Rondells ragte die dreihundert Jahre alte Linde als Wahrzeichen gen den Himmel, die dem Hof den Namen verlieh – „Lindenhof“. Drumherum breitete sich eine gepflasterte Fläche aus, die das Herrenhaus und die Stallungen miteinander verband. Arthur Morbach atmete tief ein. Er nahm den speziellen Duft von Pferden, Heu und Natur wahr, der hier allgegenwärtig in der Luft lag. Kurz schloss er die Augen. Stolz über sein geschaffenes Lebenswerk breitete sich in ihm aus, bevor sich jedoch Melancholie und Traurigkeit Raum verschafften und über sein Gemüt legten. Der Entschluss, den er vor einigen Tagen schweren Herzens getroffen hatte, knabberte an seinem Gewissen. Das entscheidende Telefonat dazu lag ihm tonnenschwer im Magen, wie Blei. Allzu gerne hätte er das Gestüt weitergeführt, so wie bisher. Nur sein fortgeschrittenes Alter von achtundsiebzig Jahren ließ dies nicht mehr zu. Seine Knochen schmerzten, wenn er morgens aus den Federn kroch. Die Arthritis verschlimmerte sich von Tag zu Tag. Die roten Zahlen, die sein Unternehmen seit zwei Jahren schrieb, bereiteten ihm ebenso Sorgen wie so vieles andere mehr. Er schnaufte. Den Kopf hängen zu lassen, war noch nie sein Ding gewesen. Er streckte sich durch, vergrub seine kalten Hände tief in den Taschen seiner dunkelgrauen Steppjacke und marschierte weiter zu den Stallungen. „Guten Morgen Max“, begrüßte er den Burschen laut. Als dieser seinen Namen vernahm, streckte er den Kopf aus einer der Boxen. „Guten Morgen, Herr Morbach. Heute scheint’s, wird ein prächtiger Tag. Die Tiere sind auch gut gelaunt.“ Max schob seine Kappe zurück. „Hast du Toni gesehen?“ Der barsche Ton, ohne auf das Geplauder zu achten, ließ Max zusammenzucken. „Ist ausgeritten. Als ich heute Morgen meinen Dienst angetreten habe, war mein erster Job, Amigo zu satteln. Die beiden waren guter Dinge. Amigo konnte es kaum erwarten, mit Toni davon zu galoppieren.“ Innerliche Genugtuung verschaffte sich Raum. Max hatte Mühe, sein schadenfrohes Grinsen zu verbergen. Er wusste, dem alten Herrn missfiel es, wenn Toni alleine ausritt.