Magic Christmas - Weihnachtswunder auf Norwegisch - Teil 2 

Erscheint am 12.10.23 auf Amazon - Herausgebracht von Empire-Verlag

Leseprobe

Kapitel 1

 

„Tobias, Schätzchen, langsam. Vorsicht!“ Bianca hechtete hektisch zu ihrem Sohn und konnte ihn gerade noch auffangen, bevor sein Kopf mit dem Kasten kollidierte.

„Huch, da hast du noch einmal Glück gehabt.“

Tobias war ein aufgeweckter neugieriger Junge mit 17 Monaten. Die ersten Schritte hatte er bereits mit neun Monaten gestartet und war seitdem nicht mehr zu halten. Nun versuchte er, die Welt zu erkunden, indem er überall hinaufkletterte.

„Jetzt bleib bitte einen Moment sitzen, Tobi, Schatz, ich muss dich fertig anziehen. Mama hat es eilig.“ Genervt blies Bianca eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihre Frisur schrie schon lange nach einem Friseur. Sie fühlte sich müde und schlaff. Nur mit viel Mühe konnte sie vorhin die tiefen Augenringe mit Make-up etwas kaschieren. Diese Nacht hatte sie kaum geschlafen. Tobias war immer wieder mit Weinkrämpfen aufgewacht. Gegen zwei Uhr morgens war sie schließlich aufgestanden, um ihrem Sohn ein Fläschchen mit Babymilch zuzubereiten und ihn zu füttern. Danach war er zufrieden eingeschlafen, um jedoch so gegen vier Uhr morgens wieder Radau zu schlagen. Im Moment turnte er herum und wollte sich partout nicht anziehen lassen.

Bianca musste unbedingt zur Arbeit und Tobias rechtzeitig in die Kinderkrippe bringen.

Dass es mit Kind als Alleinerzieherin nicht einfach werden würde, war ihr schon bewusst gewesen. Vorher, während des Studiums, war es noch einfacher gewesen, weil sie vieles von zu Hause aus hatte erledigen können und auch Zeit fürs Lernen fand. Seit drei Monaten arbeitete sie nun bei PTS, einem großen Beratungsunternehmen, in der Rechtsabteilung. Allerdings stieß sie nun immer öfter an ihre Grenzen der Belastbarkeit. An manchen Tagen war es ein schwieriger Parkour die verschiedenen Aufgaben von Büro, Kind und Haushalt geschickt und unbeschadet zu meistern. Bianca schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben, setzte sie ein gequältes Lächeln auf und erhaschte Tobias am Oberarm, gerade noch rechtzeitig, bevor er von der Couch köpfeln konnte.

„So, jetzt reicht es. Anziehen!“, schimpfte sie, gab ihm aber sofort ein Küsschen auf seine gerötete weiche Wange. Er duftete herrlich nach Baby Öl, mit dem sie ihn beim Wickeln eingecremt hatte. Tobias verzog zwar das Gesicht, war aber gleich wieder versöhnt und strampelte kräftig mit den Beinen, als sie ihm die Hose überstreifen wollte. Mit einem Ruck drehte er sich auf den Bauch und versuchte, von ihr weg zu krabbeln.

Es war immer dieselbe Prozedur. Abermals schnaufte Bianca. Schnell zog sie ihm noch die warme türkisgrüne Jacke aus Alpakawolle, die ihnen ihre Schwester Hanna geschenkt hatte und die Schuhe über. Endlich! Geschafft! Rasch setzte sie Tobias in den Buggy. Selbst schlüpfte sie in die weißen Sneakers. Erst jetzt bemerkte sie, dass auf ihrer weißen Bluse ein riesiger Fleck von Tobis Obstbrei prangte.

„Verflucht“, schimpfte sie. Schnell rannte sie ins angrenzende Schlafzimmer und zog eine beige Bluse aus dem Kasten. In einem enormen Tempo hatte sie sich die beschmutzte Bluse über den Kopf gestreift und das frische Teil übergezogen. Sie durfte heute weder zu spät noch angekleckert kommen, da sie an einem wichtigen Meeting teilnehmen musste. Sie schnappte sich noch die Umhängetasche und schob den Kinderwagen zum Lift. Gemeinsam mit Birgit bewohnte sie eine vierzig Quadratmeterwohnung. Birgit studierte an der Boku Wien Umweltingenieurwissenschaft und erinnerte sie mit ihrer Einstellung zu Umwelt und Natur oft an ihre Schwester Hanna. Damit konnte Bianca so gar nichts anfangen, dennoch verband sie mit Birgit mittlerweile eine innige Freundschaft, nicht zuletzt auch deswegen, weil sie ihr bei der Betreuung von Tobias half. Oft sprang sie ein, wenn sie keine Vorlesung hatte oder Tobias krank war. Aber heute stand Birgit eine wichtige Prüfung bevor, weshalb Bianca nicht auf ihre Hilfe zurückgreifen konnte und ihren Sohn selbst in der Kita abliefern musste. Zum Glück war er ein sehr offenherziger Junge, der ohne Probleme auch bei anderen Personen blieb.

 

Die Kita lag nur wenige Gehminuten von ihrer Wohnung entfernt. Bianca beeilte sich, beinahe im Laufschritt schob sie den Buggy vor sich her. Tobias gefiel die Geschwindigkeit. Sein Lachen und Gebrabbel entspannte auch sie etwas.

Chrissy, die Kindergartenpädagogin empfing sie bereits und nahm Tobi in Empfang.

 

Endlich in der U-Bahn konnte sie zumindest für drei Stationen durchschnaufen und sich innerlich auf das Meeting vorbereiten, obwohl sie eingequetscht im Gang stand. Sitzplätze waren keine mehr frei, was zu dieser Uhrzeit normal war. Es war die Hauptzeit, wo die Leute zu ihren Arbeitsplätzen fuhren.

 

„Du bist heute aber spät dran“, begrüßte sie ihre Arbeitskollegin, mit der sie das Büro teilte. „Der Chef hat schon nach dir gefragt. Begeistert war er nicht, dass du noch nicht auf deinem Arbeitsplatz warst.“

Der Schweiß drang Bianca aus allen Poren. Verdammt! Sie blickte auf die Uhr. Drei Minuten hatte sie sich verspätet und das nur, weil sie auf die nächste Bahn  hatte warten müssen. Sie startete ihren Computer und wählte die Nummer des Chefs.

„Auch schon da, sauber!“, meldete er sich. Sein Unmut war aus seiner Stimme herauszuhören. „Kommen Sie in mein Büro, damit ich mit Ihnen noch etwas besprechen kann, bevor das Meeting beginnt.“

Bianca legte auf und eilte zum Lift. Als sie im neunten Stockwerk ausstieg, beäugte sie die Empfangsdame sehr skeptisch. Der Empfang war in unmittelbarer Nähe des Lifts und Erika Meisel, die fünfundfünzigjährige Angestellte, die seit dreißig Jahren im Betrieb arbeitete, entging nichts. Sie war auch die gute Seele im Haus.

„Guten Morgen, Bianca. Der Chef ist heute schlechter Laune“, flüsterte sie und zwinkerte ihr zu.

Bianca nickte und setzte ein krampfhaftes Lächeln auf, streckte ihren Rücken durch und eilte den Gang entlang.

Sie klopfte und wartete das mürrische „Herein“, ab, bevor sie öffnete.

„Nehmen Sie Platz“, murrte Adam Wimmer. Er saß hinter seinem riesigen Schreibtisch aus Teakholz. „Frau Hammerl, ich hoffe, es wird nicht zur Gewohnheit, dass Sie zu spät zur Arbeit kommen?“

Bianca wollte gerade zum Antworten ansetzen, er unterbrach sie jedoch.

„Die Entschuldigungen können Sie sich sparen. Nun, kommen wir zum Grund, warum ich Sie sprechen wollte. Wie Sie sicherlich schon mitbekommen haben, wollen wir expandieren, und zwar nach Norwegen. Die ersten Verhandlungen sind bereits erfolgt. Heute kommt eine Delegation der norwegischen Firma ZAP, einem aufstrebenden Technologieunternehmen, von der wir mindestens fünfzig Prozent der Anteile erwerben und in unser Unternehmen integrieren wollen.“

Bianca lauschte seinen Erklärungen und fragte sich, was er von ihr wollte.

„Also“, sprach er bereits weiter, „bis jetzt war ich mit Ihrer Arbeit sehr zufrieden, außerdem sprechen Sie ausgezeichnet Englisch. Weshalb ich mir überlegt habe, Sie nach Norwegen zu schicken, damit sie vor Ort bei ZAP die nötigen rechtlichen Schritte für den Abschluss der Fussion einleiten. Das wollte ich Ihnen sagen, bevor wir nun ins Meeting gehen.“

Bianca verschluckte sich. „Was? Ich? Ich soll nach Norwegen gehen? Und was mache ich mit meinem Sohn? Als Alleinerziehende kann ich nicht so einfach in der Weltgeschichte herumreisen“, wehrte sie sich. „Außerdem konnte ich mich darauf ja gar nicht vorbereiten, wie soll dies gehen?“ Bianca war fix und fertig. So eine tolle Chance hätte sie sich nie entgehen lassen, wenn sie noch kein Kind gehabt hätte. Ihr war aber in diesem Augenblick auch völlig bewusst, dass ihr Chef ihre Erklärungen genau jetzt nicht hören hatte wollen. Wahrscheinlich hatte sie sich damit schon vorab aus dem Rennen gekickt.

„Bevor Sie ablehnen, hören Sie sich an, was im Meeting besprochen wird, dann gebe ich Ihnen eine Woche Zeit, sich die Sache zu überlegen. Und für Ihren Sohn finden Sie sicherlich eine Lösung. Das ist eine einmalige Chance. Viele hier würden sich alle zehn Finger abschlecken, wenn sie ein solches Angebot erhalten.“ Er blickte auf die Uhr. „Wir müssen los, kommen Sie“, forderte er sie auf.

Bianca stand auf, sie merkte, wie wackelig sie auf den Beinen stand und musste sich zusammenreißen, um mit ihrem Chef Schritt halten zu können.

„Norwegen“, schwirrte ihr im Kopf herum. Wie sollte sie sich jetzt auf diese Besprechung konzentrieren können. Sie hatte sich bei dieser Firma beworben, genau aus dem Grund, weil sie geschäftlich in vielen Ländern tätig waren. Für Bianca entstand somit das klitzekleine Gefühl, dass ihr hier im Konzern die Welt offen stand. Und wenn sie diese schon selbst nicht bereisen konnte, dann würde sie doch zumindest mit den Erfolgen ihrer Kollegen in den fernen Ländern mitleben können.

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Im Besprechungsraum waren die Tische zu einem U aufgestellt, die Sessel rundherum davon angeordnet. Die Stimmen und Gespräche verstummten, als ihr Chef den Raum betrat. Sie folgte ihm mit gesenktem Kopf. Schnell bog sie nach rechts ab und nahm auf dem freien Sessel neben ihrem Kollegen, Herrn Dr. Krottmaier Platz.

Während ihr Chef über Zahlen und Fakten referierte, blickte sie auf die ihr gegenüberliegende Tischseite. Dort saßen vier Männer und eine Frau, die wohl die Delegation der norwegischen Firma waren. Besonders ein Mann fiel ihr ins Auge. Obwohl er saß, strahlte er den anderen gegenüber eine gewisse Überlegenheit aus. Seine dunkelblonden, kurz geschnitten Haare waren locker zurückgekämmt und eine freche Strähne fiel ihm mittig in die Stirn. Sein Gesicht gefiel ihr. Er schien dem Vortrag gespannt zuzuhören und voll konzentriert. Sven Hagen stand auf dem Tischschild für alle leicht lesbar.

Bianca hörte plötzlich ihren Chef ihren Namen sagen und zuckte zusammen. Sie spürte die Blicke der anderen auf sich gerichtet und die innerlich aufkeimende Hitze emporsteigen. Nur nicht rot werden, befahl sie sich, atmete tief durch und setzte ein gekünsteltes Lächeln auf. Irgendwie musste sie nun herausfinden, in welchem Zusammenhang ihr Name gefallen war. Sie hätte doch besser dem Vortrag lauschen sollen, als mit den Gedanken zu den Norwegern abzuschweifen, nun ja, zumindest zu dem einen.

Als ihr Chef mit seiner Präsentation fertig war, übergab er das Wort an die Gäste.

Dieser Sven Hagen stand nun auf und trat neben Herrn Wimmer. Er bedankte sich in einem einwandfreien Deutsch und hielt seine Rede. Bianca war beeindruckt. Sie konnte sich gar nicht auf seine Erläuterungen konzentrieren, zu sehr war sie von seiner sonoren tiefen Stimme, mit dem leichten Akzent, fasziniert. Außerdem überragte er mit seiner stattlichen Größe ihren Boss um mehr als einen Kopf.

Das Vibrieren ihres Handys in ihrer Sakkotasche rüttelte sie auf. Sie fischte es heraus und hielt es verstohlen unter den Tisch, um die Nachricht zu lesen. Das klang gar nicht gut. Sie stand auf und eilte in den Flur. Dort rief sie Chrissy zurück.

„Hallo, gut dass Sie zurückrufen“, meldete sich diese auch sofort. „Tobias hat erbrochen. Ihm geht es nicht gut. Können Sie ihn abholen?“

„Auweia, das ist jetzt ganz schlecht. Ich bin mitten in einem Meeting und kann gerade nicht weg.“ Bianca sah auf ihre Armbanduhr. „Ich kann versuchen, meine Freundin zu erreichen, vielleicht kann sie Tobi holen. Ich rufe Sie in ein paar Minuten zurück“, dann legte sie auf. So ein Mist, schalt sie still und wählte Birgits Nummer. Es dauerte etwas, bis sie das Gespräch annahm.

„Birgit, hast du die Prüfung schon abgelegt? Wie ist es gelaufen?“

„Ja, alles fertig und ich denke, es wird schon reichen. Aber deswegen rufst du sicher nicht an“, ertappte sie Bianca.

„Tobi geht es nicht gut, aber ich kann hier ganz schlecht weg. Könntest du ihn holen? Hast was gut bei mir.“

„Geht schon klar. Ich bin für heute auf der Uni fertig. Dann lauf ich gleich los. Bring aber bitte für später etwas zu essen mit“, sagte Birgit.

„Danke, und ja, ich muss eh noch Windeln und einige andere Dinge besorgen.“ Bianca legte erleichtert auf. Sie eilte zurück auf ihren Platz. Von ihrem Chef erntete sie missbilligende Blicke. Auch Herr Hagen sah kurz zu ihr, als sie sich wieder setzte.

„Habe ich etwas Wichtiges verpasst?“ Die Frage richtete sie an Dr. Krottmeier.

„Erzähle ich Ihnen später“, flüsterte er, ohne den Vortragenden aus den Augen zu lassen.

Nach dieser Ansprache folgte eine Pause mit Getränken und Snacks.

Bianca bediente sich mit einem Lachsbrötchen. Ihr Magen machte sich mit einem Knurren bemerkbar, da sie heute noch nichts gegessen hatte.

„Sie sind Frau Magister Hammerl?“ Sven Hagen stand plötzlich neben ihr. Sie hatte ihn gar nicht registriert. Allein bei seiner Stimme, beschleunigte sich ihr Herzschlag.

„Ja, die bin ich. Warum fragen Sie?“ Neugierde war schon immer eine ihrer Untugenden gewesen.

„Herr Wimmer hat sie in den höchsten Tönen gelobt. Was mich wundert“, ergänzte er nach einer kurzen Pause. „Anscheinend haben Ihnen meine Ausführungen zur Firmenzusammenlegung nicht sonderlich interessiert.“

„Doch, natürlich. Wie kommen Sie denn darauf?“

„Sie sind einfach aufgestanden und haben den Raum verlassen“, kam es vorwurfsvoll über seine Lippen. Sein vorwurfsvoller Blick, von oben herab, ließ das Blut in ihren Adern beinahe gefrieren. Aber nur beinahe!

Bianca reichte es. Sollte sie sich vor diesem arroganten Typen vielleicht auch noch rechtfertigen? Bevor sie zu einer Entgegnung ansetzen konnte, tauchte ihr Chef neben ihnen auf.

„Schön, das sehe ich gerne, Sie haben sich bereits bekannt gemacht“, legte er sofort los. Dann bediente er sich beim Buffet, sprach jedoch gleich weiter.

„Im Anschluss nach den weiteren Programmpunkten treffen wir uns beim Heurigen ums Eck, zum gemütlichen Ausklang. Dann können Sie beide sich bereits etwas näher kennenlernen, denn schließlich sollen Sie ja in weiterer Folge im Team zusammenarbeiten. Frau Hammerl wird die rechtlichen Schritte abklären, die noch offen sind.“

Bianca verschluckte sich an ihrem Brötchen. Als sie wieder Luft bekam, schüttelte sie den Kopf.

„Herr Wimmer, Herr Hagen, so leid es mir tut, ich kann nicht mit zum Heurigen gehen. Mein Sohn ist krank und ich muss nach Hause.“

Jetzt war es draußen. Das war es dann wohl mit der tollen Karriere. Aber was soll’s. Mit Kind im Gepäck hätte sie sowieso nie nach Norwegen übersiedeln können. Bianca nahm sich ein Glas Wasser, um sich abzulenken. Die Blicke der beiden Männer schmerzten.

„Wie alt ist Ihr Sohn?“ Sven Hagen hatte die Frage gestellt.

„Siebzehn Monate.“ Bianca rüstete sich auf einen Angriff.

Sven Hagen richtete sich nun an Wimmer. „Sie haben nicht erwähnt, dass Frau Hammerl ein Kind hat. Sollte sie wirklich nach Norwegen kommen, müsste doch einiges mehr bedacht werden. Sie wird einen guten Betreuungsplatz benötigen, auch sind die Arbeitszeiten dann genau zu besprechen. Uns Norwegern liegt das Wohl der Kinder sehr am Herzen.“ Es klang beinahe wie eine Rüge. Dann wandte er sich zu Bianca. „Unser Team ist noch zwei Tage hier. Wir können uns gerne morgen am Vormittag zusammensetzen und die wichtigsten Punkte besprechen“, bot er ihr an.

Mit vielem hätte sie gerechnet, nicht jedoch mit Sven Hagens Verständnis.

„Ich hoffe, Sie kommen morgen ins Büro“, meckerte Wimmer. „Kann jemand Ihren Sohn in der Zwischenzeit betreuen?“

„Natürlich“, antwortete Bianca, ohne nähere Erläuterung. Am liebsten hätte sie ergänzt, dass sie jetzt ja auch da sein, obwohl es ihrem Kleinen nicht gut geht. Sie verbiss sich diese Bemerkung allerdings.

 

Als sie sich endlich auf den Weg nach Hause machen konnte, war es bereits nach siebzehn Uhr. Um ins Shoppingcenter zu kommen, musste sie eine Station früher die U-Bahn verlassen. Überall erstrahlte die Weihnachtsbeleuchtung, bei den Geschäften, über den Straßen und Gassen. Überall leuchtete und schimmerte es. Das erinnerte sie an zu Hause, an Funkelstein. Da würden jetzt auch die ersten Weihnachtsvorbereitungen getroffen werden. Ihr Heimatort war mittlerweile ein berühmtes Weihnachtsdorf geworden, weithin bekannt und in der Adventszeit ein beliebter Urlaubsort. Und Weihnachten hieß, dass sie für Tobias auch noch ein Geschenk benötigte. Was sollte ihm das Christkind heuer wohl bringen? Dieses Wochenende begann bereits die Adventszeit, stellte Bianca erschrocken fest. Wie schnell die Zeit doch verging. Im Einkaufscenter klangen aus den Lautsprechern Weihnachtsmelodien. Sie lief zum Drogeriemarkt, um für Tobias Babybrei, Windeln, Feuchttücher und eine Hautcreme zu besorgen. Anschließend eilte sie noch zum Lebensmittelmarkt. Dort überlegte sie, was sie heute noch kochen sollten. Bianca legte reichlich Gemüse, Reis und etwas Geschnetzeltes in den Einkaufswagen. Gemüsereis aßen sie alle gern, auch Tobias. Zufrieden steuerte sie die Kassen an. Eine lange Warteschlange hatte sich gebildet und es dauerte eine Zeitlang, bis sie endlich ihre Ware auf das Band legen konnte. Mit den schweren Einkaufstaschen eilte sie auf den Ausgang des Einkaufszentrums zu. Schon von Weitem erblickte sie den Weihnachtsmann mit roter Mütze, mit weißem Plüschbesatz und einem roten Mantel, ebenfalls mit weißem Plüschkragen. Der Mann war etwas korpulent, um die Mitte herum trug er einen breiten schwarzen Gürtel mit goldener Schnalle. Auf seinem roten Hemd prangten goldene Metallknöpfe. Dazu trug er schwarze Stiefel mit Krempen. So hatte sie sich den Weihnachtsmann vorgestellt. Vor einem Laden namens Santa’s Art&Craft mit Weihnachtsdekoration, der ihr zuvor noch nie aufgefallen war, unterhielt er sich mit einem kleinen Mädchen, auch andere Kinder standen neben ihm. Ein Lächeln huschte über Biancas Lippen. Irgendwie fand sie es schade, dass sie Tobias nicht dabei hatte. Der Weihnachtsmann hätte ihm auch gefallen. Als sie auf seiner Höhe war, machte der Mann ein paar Schritte auf sie zu. Er stellte sich ihr in den Weg, sodass auch sie stehen bleiben musste. Sie blickte ihn erstaunt an.

„Nicht so eilig, nicht so eilig“, sagte er mit einer sehr tiefen, aber weichen Stimme. Seine freundlichen blauen Augen musterten sie aufmerksam. Ein Lächeln umspielte seine, vom weißen Bart umrahmten Lippen. Er griff in seinen Sack, den er umgehängt hatte, und reichte ihr ein kleines viereckiges Päckchen. „Mir scheint, dich bedrücken Sorgen, auch Wünsche sehe ich in deinem hübschen Kopf. Nicht wahr? Es werden sich für dich viele neue Möglichkeiten auftun, vertraue deinem Gefühl und deinem Herzen, dann stehen dir die Welt und die Liebe offen. Und dieses Päckchen ist der Schlüssel zu allem, gehe sorgsam damit um.“

Bianca rieselte ein eigenartiger Schauer über den Rücken. Ihr wurde innerlich warm, sogar heiß. Bevor sie etwas antworten konnte, war er im kleinen Weihnachtsladen verschwunden, gefolgt von der Kinderschar, die ihn zuvor umgeben hatte. Seltsam, dachte Bianca. Sie sah ihm noch nach, obwohl sie ihn nicht mehr sehen konnte. Das kleine Päckchen in der Hand stand sie irgendwie verloren da. Bianca schüttelte energisch den Kopf, steckte das Päckchen in die Manteltasche, nahm ihre Einkaufssäcke und beeilte sich, so rasch als möglich zur U-Bahnstation zu kommen.

 

Völlig erledigt und müde eilte sie nach Hause. Sie suchte in der Tasche nach dem Eingangsschlüssel.

„Bianca, mein Schatz, hallo.“

Wie vom Blitz getroffen erstarrte sie. Vor dem Hauseingang stand Tobias’ Vater, Professor Stefan Wolf, der sie wie eine heiße Kartoffel hatte fallen lassen, als er von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte.

„Was willst du?“ Sie presste die Worte aus ihrem Mund und ihre Augen verfinsterten sich zu Schlitzen. Stefan war der letzte Mensch auf der Welt, den sie sehen wollte. Nach all dem, was er ihr angetan hatte, wollte sie nur noch, dass er verschwand.

„Kannst du dir das nicht denken? Du fehlst mir und ich möchte mein Kind kennenlernen? Ich weiß nicht einmal ob es ein Mädchen oder ein Junge ist.“

„Verschwinde, auf der Stelle! Such dir deinesgleichen!“

„Na, na“, er machte einen bedrohlichen Schritt auf sie zu. „Schatz, wir hatten doch eine wunderschöne Zeit, die willst du doch nicht einfach wegwerfen?“

„Baha, welche Zeit? Wir waren einmal im Bett! Und? Für beide ein One-Night-Stand, zwar mit Folgen, aber trotzdem nicht mehr! Ich möchte dich nur daran erinnern, dass du es warst, der seine Ehe wegen einer wie mir nicht gefährden wollte. Weggeworfen hast du uns, damals, gleich nachdem ich dir erzählt habe, dass unsere gemeinsame Nacht nicht ohne Folgen geblieben war!“ Bianca kochte innerlich vor Wut. Und diesen Mann hatte sie einmal bewundert, angehimmelt und vielleicht sogar geliebt. Zumindest war sie in eine Vorstellung verbliebt gewesen, die sich dann in Rauch aufgelöst hatte. Ihr Professor, der Schwarm aller Studentinnen, der kollegiale, sympathische Kerl hatte sie aus all den anderen herausgekoren und ihre Liebe erhört. Na ja, das ist jetzt auch übertrieben, stellte sie zerknirscht fest, er hatte sie um den Finger gewickelt, um sie in die Federn zu bekommen. Das war ihm ja gelungen und bei ihr hatte er sich nicht einmal sonderlich anstrengen müssen.

„Ich weiß, dass ich dich schlecht behandelt habe. Es tut mir leid, ehrlich“, er hob beide Arme in die Höhe und setzte einen mitleidheischenden Blick auf. Sie hatte ganz vergessen, wie gut er das beherrschte. „Lass uns einfach von vorne anfangen und ich lege dir die Welt zu Füßen. Dann brauchst du dich nicht mehr abschleppen“, er zeigte auf ihre Einkaufstaschen.

„Und was sagt deine Frau zu deinen Plänen?“ Bianca riss bald der Geduldsfaden.

„Ich bin frei. Also, worauf wartest du noch? Gehen wir in die Wohnung? Hier wird es langsam ungemütlich.“

Bianca glaubte, nicht richtig zu hören. „Was, bitteschön, hat der kluge Herr Professor an ‚verschwinde‘ nicht verstanden? Hau einfach ab und lass mich in Zukunft in Ruhe!“ Zu gerne wäre sie einfach an ihm vorbeigelatscht und im Inneren des Hauses verschwunden. Leider musste sie dazu erst aufsperren und er stand ihr breitbeinig im Weg.

„Bianca“, begann er ...

„Ich zähle bis drei und wenn du dann nicht weg bist, rufe ich die Polizei! Ich glaube nicht, dass das deinem Ansehen gut tun würde.“

Abermals hob er die Arme. „Ich verstehe, wenn du wütend bist. Denk über mein Angebot nach. Ich melde mich wieder“, dann ließ er sie stehen und ging davon.

Sie beeilte sich, in die Wohnung zu kommen. Der Schock saß tief.