Das einsame Einhorn

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Mitten in einem unendlichen Wald steht einsam das letzte Einhorn. Es blickt traurig um sich. Ist denn da niemand, der ihm Gesellschaft leistet? Alles ist ganz still und leise - kein Vogelgezwitscher ist zu hören. Wo sind denn alle Vögel hingeflogen, denkt sich das Einhorn. Die Luft steht, es weht nicht einmal der Wind, der sonst zumindest die Blätter der Bäume zum Rascheln gebracht hätte. Seltsam. So ruhig war es hier noch nie. Wo sind sie denn alle? 

Unsicher blickt sich das Einhorn noch einmal um. Da ist wirklich niemand! Nicht einmal die Mäusefamilie lässt sich heute blicken. Gestern hatte das Einhorn mit der Mäusemutter geschimpft, weil sie ihm zu nahe gekommen war. Schließlich war es ja etwas Besonderes, da hatte jedes Lebewesen vor ihm Ehrfurcht zu haben, glaubte zumindest das sehr stolze und eingebildete Einhorn. Aber jetzt war es wirklich langweilig. Wen sollte es denn anpöbeln und anschwatzen, wenn keiner da war. Selbst die frechen Eichhörnchen haben sich verdrückt. Die hatten am wenigsten Respekt vor ihm. Keck sind sie ihm mit buschigem, wehendem Schwanz vor die Beine gehüpft  und den nächsten Baumstamm hinauf geschossen, von Ast zu Ast gesprungen und dann wieder hinab auf den Boden gesegelt. Dem Einhorn ist alleine beim Zuschauen schwindelig geworden. Es ärgert ihn, dass er nicht so wendig und flink wie diese niedlichen Waldbewohner ist. Ganz im Gegenteil. Ständig muss es aufpassen, dass es mit seinem langen Horn nicht im Geäst der Bäume hängen bleibt. Einfach ärgerlich.  

Die jungen Füchse, die tollpatschig im langen Gras herumgekugelt sind, Abfangen gespielt haben und versucht haben, sich gegenseitig zu zwicken, machen heute keinen Mucks. Sie sind noch nicht aus ihrer Höhle aufgetaucht. Auch die Füchsin scheint verschollen zu sein. Sogar vom alten Uhu, der auf der knorrigen Fichte sein Nest gebaut hat, und bei beginnender Dämmerung seine Schwingen ausgebreitet und sein Revier erkundet hat, fehlt jede Spur. Auf einmal wiehert das Einhorn so laut es kann: " Wo seid ihr denn alle, ich will nicht alleine sein. Das ist gar nicht lustig. Kommt doch wieder zurück. Ich werde auch nett zu euch sein und nie mehr mit euch streiten und euch beschimpfen."  

"Meinst du das wirklich ehrlich?", kam ein leises Stimmchen hinter einer dicken Buche hervor.

"Ja, natürlich", erwiderte das Einhorn.

Einige Zeit ist es noch ruhig, aber dann beginnt es langsam im Laub zu rascheln, Vogelgezwitscher setzt ein und die Bewohner des Waldes kommen aus ihren Verstecken hervor. Sogar der Wind ist wieder erwacht und wirbelt fröhlich die bunten Blätter durch die Luft. Völlig gerührt, beginnt das Einhorn zu tanzen und zu jubeln. Jetzt ist es nicht mehr alleine und von nun an schwört es, immer freundlich und lieb zu seinen Mitbewohnern zu sein.

Waldelfe Ariana und der alte Bär

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Im Zauberwald herrscht große Aufregung. Alle Tiere haben sich auf der Lichtung versammelt. Der Ältestenrat des Waldes will beraten, wie sie ihrem Freund Ben, dem alten Bären, helfen können. Ben sitzt abseits der Gruppe und brummt vor sich hin. Seine Gelenke schmerzen, sein Fell ist ganz struppig, weil er sich nicht mehr ausreichend pflegen und putzen kann. In jungen Jahren war er fit und fidel. Er vermochte sehr weite Strecken zurückzulegen, tausende Kilometer war er gewandert, bis er hier im Zauberwald angekommen war. Seit dieser Zeit ist der Zauberwald seine Heimat. Er hat hier sehr viele Freunde gefunden. Jetzt jedoch sehnte er sich zurück und wäre zu gerne wieder jung. Traurig schüttelt er sein dickes Haupt, die braunen Augen starr auf den Boden gerichtet. Die Stimmen seiner Freunde dringen von weitem in sein Ohr. Was sie sprechen, kann er nicht verstehen. Aber was ist das denn? Jetzt hört er auch den feinen, wohlklingenden Gesang der Elfen. Ja die lieben Elfen. Er mochte diese zierlichen kleinen Wesen. Sie eilten immer herbei, wenn sie von den ältesten des Waldes gerufen wurden. Wie das funktionierte, war für Ben jedoch immer ein Rätsel geblieben. Normal ließen sich diese scheuen Wesen nicht blicken.

„Lieber Ben, was bedrückt dich denn so, dass sogar die Ältesten uns um Hilfe bitten?“ Waldelfe Ariana stand auf einem Blatt direkt vor dem Bär.

Ben blickte in die Richtung, aus der er die feine Stimme vernahm und sah das winzige Elfen-Mädchen vor ihm stehen. „Brumm, brumm, brumm, ich kann mich kaum bewegen, alles schmerzt. Ist wohl das Alter, was soll man da schon machen. Aber warum wurdest du denn gerufen?“

„Weil du Hilfe benötigst, haben mich die Tiere, deine Freunde, wissen lassen. Du brauchst Medizin für deinen Körper und für deinen Geist. Aber Doktor Fuchs Eucharest ist ratlos, er weiß nicht, was er dir verordnen soll. Dein trauriges, schmerzhaftes Brummen, ist im ganzen Zauberwald zu hören. So geht das nicht weiter, lieber Ben. So, und jetzt sieh mir in die Augen, ganz fest“, befahl die kleine Elfe. „Hm, hmhm, hm“, summte sie vor sich hin, während sie die Augen des Bären untersuchte. Sie erhob sich mit ihren Flügeln, flatterte einmal um den Bären herum, tapste ihn mit der zierlichen Hand an den verschiedenen Körperstellen an. Manchmal zuckte er dabei. „Hm, hm, hm“, summte sie abermals. „Ich weiß jetzt, was du brauchst, mein Freund. Warte hier, ich bin gleich wieder bei dir“, befahl sie ihm und schwebte davon. Verwirrt sah Ben ihr nach. Wenn das so ist, dachte er bei sich, mache ich ein Nickerchen, lehnte sich an den Baumstamm und schloss die Augen. Sofort schlief er ein.

Die Tiere legten sich im Halbkreis um ihren Freund. Auch sie waren müde und schlossen die Augen.

„Na ihr seid mir ja eine große Hilfe“, sagte die kleine Elfe lachend, als sie die schlafenden Gestalten sah. Sie flog zum Bären, stupste ihn sanft an der Tatze. „Aufwachen, alter Junge.“

Langsam öffnete Ben die müden Augen. Er wusste nicht, wie lange die Elfe fort war, oder wie lange er geschlafen hatte. Aber es war ihm auch egal. Schmunzeln musste er, weil seine Freunde auch alle tief und fest schliefen.

„Hier, iss das“, sagte Ariana und hielt ihm verschiedene Blätter vor die Nase.

„Igitt, igitt, ich esse doch kein Grünzeug“, meckerte Ben angewidert.

„Doch, tust du, diese hier isst du. Es ist Medizin, die dich heilen wird.“

Ben schüttelte sich am ganzen Körper vor Ekel und weil Ariana ihm noch immer die Blätter vors Maul hielt, öffnete er es schließlich widerwillig. Ariana stopfte ihm die Blätter der Heilkräuter rasch ins Maul und passte dabei auf, dass sie nicht auch zwischen seinen Zähnen landete, wenn er es wieder schloss. „Ui, du hast aber Mundgeruch! Sag putzt du dir deine Zähne nicht?“

„Brumm, wieso sollte ich?“, wunderte sich Ben. „Du brauchst gar nicht ablenken, diese Blätter schmecken grausig igitt, pfui.“ Mühsam würgte er sie schließlich hinunter. „Und bei den Zähnen fehlt mir nichts“, brummte er.

„Hier, das wird dich wieder versöhnen“, lachte sie und hielt ihm einen Krug mit Honig vor die Nase. Schnell griff Ben zu, das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er liebte Honig.

Ariana schwebte nun ein paar Mal um ihn herum, stupste ihn einmal dort und einmal da und summte eine seltsame Melodie. „So alter Junge, jetzt kannst du dich wieder hinlegen und noch eine Runde schlafen. Und wenn du morgen in der Früh aufwachst, fühlst du dich sicherlich um einige Jahre jünger. Tschau und eine schöne Zeit“, und schwuppdiwupp war Ariana fort. Ben wollte noch Danke sagen, fühlte sich jedoch viel zu müde dazu und schlief augenblicklich ein.

Es war bereits Mittag vorbei, als Ben die Augen wieder öffnete. Er streckte sich einmal kräftig, blickte um sich und stellte fest, dass seine Freunde verschwunden waren. Hm, dachte er, wo sind denn alle hingegangen. Und weil sein Magen knurrte, wollte er sich etwas zum Essen suchen. Beim Aufstehen stellte er fest, dass seine Schmerzen verschwunden waren. Vorsichtig stellte er sich auf seine Hinterbeine und richtete sich auf. Keine Schmerzen. Er hüpfte auf allen vieren herum. Keine Schmerzen. Er fühlte sich, als wäre er noch ein junger fideler Bär. Laut brummte er sein Dankeschön in den Zauberwald, dass die Elfen, vor allem aber Ariana, hören mussten. Frohen Mutes machte er sich auf die Suche nach Futter und trabte glücklich tiefer in den Zauberwald.